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»Rhythm 0« von Marina Abramović
»Rhythm 0« von Marina Abramović
Gütersloh, 6. Februar 2025
Was ist die menschliche Natur? Seit Anbeginn der Zeit hat diese Frage die Menschheit beschäftigt. Von der #Antike über die #Aufklärung bis zur #Gegenwart haben Denker versucht, darauf eine Antwort zu finden. Der #Philosoph #Thomas #Hobbes meinte, dass ein »Naturzustand« der Menschheit, also eine #Existenz ohne #Gesellschaft, in einem ständigen Zustand von #Konflikt und #Gewalt enden würde. Doch entspricht das wirklich der Wahrheit? Würde unsere #Moral siegen oder, wie Hobbes suggeriert, in der #Gesetzlosigkeit verschwinden?
1973 stellte sich die serbische Künstlerin #Marina #Abramović dieselbe Frage. Was bedeutet Menschlichkeit wirklich, und wie beeinflusst dies die Beziehung zwischen #Kunst und Publikum? Als Performancekünstlerin war sie fasziniert davon, wie das Publikum die Werke, die sie präsentierte, beeinflussen konnte. Bereits in ihrem ersten Werk der »Rhythm« Serie, »Rhythm 10«, erkannte sie die zentrale Rolle des Publikums für die Integrität ihrer Kunst. Diese Erkenntnis vertiefte sich in den weiteren Installationen der Serie (»Rhythm 5«, »Rhythm 2« und »Rhythm 4«), die schließlich in »Rhythm 0« gipfelte.
Aufführung 1974 in Neapel
»Rhythm 0« wurde 1974 in der Studio Morra in #Neapel aufgeführt und dauerte 6 Stunden. Während dieser Zeit stand Abramović regungslos da und präsentierte dem Publikum eine klare Anweisung: »Es gibt 72 Objekte auf dem Tisch, die man nach Belieben an mir verwenden kann. Ich bin das Objekt. Während dieser Zeit übernehme ich die volle Verantwortung.« Unter diesen Objekten befanden sich sowohl harmlose Dinge wie #Parfüm, #Honig und eine #Rose als auch gefährliche Gegenstände wie #Rasierklingen, ein #Messer und eine geladene #Pistole.
Zunächst begegnete das Publikum Abramović mit Sanftmut: Sie erhielt #Blumen, wurde umarmt oder vorsichtig umpositioniert. Doch mit der Zeit eskalierten die Handlungen. Zuschauer schnitten ihre #Kleidung auf, gaben ihr einen Messerstich zwischen die Beine, berührten sie unsittlich und ritzten ihre Haut auf, um ihr Blut zu trinken. Einer versuchte sogar, sie zu vergewaltigen, wurde jedoch von anderen Teilnehmern aufgehalten. Gegen Ende der Performance kam es zu einem beunruhigenden Moment: Jemand lud die Pistole, legte sie in ihre Hand, drückte ihren Finger auf den Abzug und richtete sie auf ihren Kopf – ein Kampf entbrannte innerhalb des Publikums.
Künstlerin als Objekt
Abramović präsentierte sich in »Rhythm 0« als Objekt – eine direkte Parallele zu den jahrhundertelangen Erwartungen gegenüber Frauen in der Gesellschaft. Die Misshandlungen, die sie in diesen sechs Stunden erlebte, spiegeln die realen Konsequenzen der Objektifizierung von Frauen wider. Während die meisten Frauen in ihrem Leben nicht wortwörtlich regungslos bleiben wie Abramović, zeigt die Performance doch eindrucksvoll die Gefahr, die in der Reduzierung von Menschen auf Objekte liegt. Die Künstlerin betont selbst in einem Interview: »Ich komme aus einer Welt, in der Frauen alle Macht haben.« Doch sie stellt fest, dass dies in westlichen Kulturen oft nicht der Fall ist: »Wir sind Frauen, wir schenken Leben. Es ist die mächtigste Rolle – und doch spielen wir freiwillig dieses absurde, zerbrechliche Spiel.«
#Wahrheit über die Natur des Menschen
Die #Performance offenbart nicht nur eine beunruhigende Wahrheit über die Stellung der Frau, sondern auch über die Natur des Menschen. Was wären die Teilnehmer von »Rhythm 0« in einem privaten, konsequenzlosen Umfeld zu tun bereit? Während manche argumentieren, dass die Gruppendynamik sie zu diesen Handlungen ermutigte, zeigt das #Experiment in erster Linie, wie die menschliche Natur aussieht, wenn sie unkontrolliert bleibt.
Der Mob verlässt den Raum
Als die 6 Stunden endeten, trat Abramović in die Menge – blutverschmiert, mit Narben bedeckt und ohne Kleidung. Der zuvor so mutige #Mob wich zurück und verließ panisch den Raum. Sie konnten der Konsequenz ihrer Taten nicht ins Gesicht sehen. Die Zuschauer wussten, dass ihre Handlungen moralisch falsch waren – ihr Schamgefühl beweist es. Doch warum taten sie es trotzdem? Dieses Verhalten spiegelt eine gesellschaftliche Dynamik wider, die oft gegen Frauen gerichtet ist. Wenn es sich um Mütter, Schwestern oder Freundinnen handelt, erkennen wir ihre Menschlichkeit. Doch was passiert mit jenen, denen wir keinen persönlichen Wert beimessen? Wenn eine Frau entweder Objekt oder Mensch sein kann, aber niemals beides gleichzeitig, dann zeigt »Rhythm 0« auf erschreckende Weise, was dies für unser Verhalten gegenüber Frauen bedeutet.
#Mitgefühl und #Grausamkeit
Einige Zuschauer begegneten Abramović während der Performance mit Sanftmut, wischten ihre Tränen ab oder versuchten, sie zu schützen. Doch viele dieser »Beschützer« waren dieselben, die sie zuvor verletzt hatten. Das verdeutlicht die #Diskrepanz zwischen #Mitgefühl und #Grausamkeit: Wir sind zur #Empathie fähig, aber die Verlockung der #Gewalt ist ebenso stark. Der wahre Schrecken liegt in der willkürlichen Begrenzung unserer Empathie – wenn sie sich nur auf jene erstreckt, die wir als wertvoll erachten. Dieses selektive Mitgefühl ist der Kern der Gewalt gegen Menschen und eine Gefahr, die nicht unterschätzt werden darf.